Lateinamerikanische Schriftstellerinnen auf der Leipziger Buchmesse – 5 Erkenntnisse

Lange war unklar, ob ich dieses Jahr überhaupt zur Messe fahren sollte. Doch trotz einiger Hindernisse packte ich meine Sachen und fuhr gen Osten, Richtung Heimat. Ich wollte diese Messe aber unter ein bestimmtes Motto stellen. Es ist ja schon länger bekannt, dass auf meinem Blog Literatur aus Lateinamerika zu finden ist. Das reichte mir aber nicht aus und so spezifizierte ich nochmals meinen Schwerpunkt. Ich wollte vor allem weiblichen Stimmen finden. Ob nun bereits ältere Titel (aus 2018), Aktuelles oder Kommendes. Ich wollte alles sammeln und im Nachgang aufbereiten. Auf meinem Twitter-Account teilte ich meine Fundstücke, die ich in diesem Beitrag noch einmal genauer unter die Lupe nehmen werde.

Meine wichtigsten 5 Erkenntnisse nach der Messe und bei der Zusammenstellung dieses Beitrages zu kurz zusammengefasst:

1. Die meisten Bücher kommen aus Argentinien (9 Veröffentlichungen), Mexiko (4 Veröffentlichungen) und Chile (4 Veröffentlichungen). Dabei beziehe ich mich auf 2018/2019.
2. Unter den Neuerscheinungen 2019 finden sich sehr viele literaische Debüts.
3. Thematisch gesehen ist die Verarbeitung der gewalttätigen Vergangenheit und Gegenwart nach wie vor dominierend.
4. Die Menge meiner „Ausbeute“ hat mich zunächst positiv überrascht. Ich hatte gar nicht gehofft, dass ich so viele Titel zusammentragen kann. Und dabei ist dies ja nur eine Auswahl! Nach konkreter Zählung bin ich auf 23 Bücher (ohne Kinderbuch und TB Lizenz) für 2018 und 2019 von Schriftstellerinnen aus Lateinamerika gekommen. Ziemlich ernüchternd, wenn man bedenkt, dass jährlich mehrere tausend Bücher ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht werden.
5. Einige Titel sind für bekannte und wichtige Literaturpreise nominiert. Bspw. Den Anna-Seghers-Preis, den LiBeraturpreis oder den Internationalen Literaturpreis.

Nun zurück zur Leipziger Messe, die zwar schon gefühlt Ewigkeiten her ist aber dennoch nachschwingt. Gleich als erstes besuchte ich den Berliner Klak Verlag, um mich über die argentinische Schriftstellerin Esther Andradi zu informieren. Denn bereits am Abend wollte ich zu einer Lesung, bei der sie ihr neues Buch „Drei Verräterinnen“ vorstellen wollte. Der Zufall wollte es, dass ich sie gleich am Messestand traf und sich ein Gespärch entspann.


Esther Andradi kam 1983 nach Berlin und verarbeitete ihre Erlebnisse in ihrem neuen Buch „Drei Verräterinnen“, das bereits 2008 auf Spanisch unter dem Titel „Berlin es un cuento“ (dtsch. Berlin ist ein Märchen) veröffentlicht wurde. Für sie sei dieser Roman in erster Linie ein Experiment gewesen: ein Roman im Roman. Bety, die Hauptprotagonistin, landet Anfang der 1980er Jahren in West-Berlin und steht erstmal vor dem Nichts: ohne Geld, ohne Arbeit und ohne Sprache. Sie möchte über Frauen, die dem gängigen, konventionellen Schönheitsideal nicht entsprechen, schreiben und entwickelt drei starke Frauenfiguren, die die Welt radikal verändern wollen, um etwas Neues zu schaffen. Deshalb werden sie von Bety auch die drei Verräterinnen genannt, da sie mit ihrer Idee tradierte Konventionen verraten beziehungsweise aufbrechen. Den ganzen Bericht zur Lesung während der Leipziger Buchmesse hier lesen.


Beim Penguin Verlag erfuhr ich, dass ein neues Buch von der bereits verstorbenen Schriftstellerin Clarice Lispector im Herbst 2019 erscheinen wird. „Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau“ versammelt 44 teils erstmals ins Deutsche übertragenen Geschichten. Die Kurzprosa von Lispector ist im deutschsprachigen Raum noch unbekannt und die Neuerscheinung wird eine Lücke schließen.

Ihr habt noch nie etwas von der Brasilianerin, deren jüdische Eltern aus der Ukraine stammten, gehört? Dann empfehle ich Euch eine erste Begegnung bei buzzaldrins Bücher. Linus schildert in seinem Beitrag Eindrücke zu ihrem Debüt „Nahe dem wilden Herzen„.


Der S. Fischer Verlag machte mich ganz neugierig auf eine ganz besondere Autorin: „Ich bin in Venezuela geboren, einem Land, in dem man sogar Blumen plündert. Wir kennen den Tod genauso gut wie uns selbst: Wir sind mit ihm aufgewachsen, er klebt immer an uns. Wir werden getötet oder töten uns, wir begraben und werden begraben. In Venezuela, meiner
Heimat, tanzen wir für die Toten, beweinen sie und feiern Feste für sie. Sie erinnern uns daran, dass wir bald unter oder von der Erde vertrieben sein werden, die sie beherbergt.“

Diese Stimme gehört Karina Sainz Borgo. Ihr erster Roman „Nacht in Caracas“ wird im August in Deutschland erscheinen. Ihr Buch versucht eine Zusammenführung von Leben und Literatur und zugleich die aktuelle Tragödie zu verarbeiten.


Ein furioses Debüt verspricht der Hanser Verlag. Gemeint ist die mexikanische Autorin Aura Xilonen mit „Gringo Champ„. Tabitha von Zeilensprünge hebt vor allem die Sprache hervor: „In ihrem Debütroman verschmelzen die Welten und Kulturen auf sprachlicher Ebene. Das wilde Konglomerat aus Anglizismen, spanischen Wörtern und Neologismen ist auf den ersten Blick ein wenig sperrig, auf den zweiten Blick aber eine authentische Angleichung der Sprache an den Inhalt – jung, wild, rotzig und befreit von Konventionen und Regeln und zeigt dem Konzept der Leitkultur sprachlich den Mittelfinger.“

Dass auch der deutschsprachige Raum davon zehren kann, ist der Übersetzerin Susanne Lange zu verdanken, die mit ihrer Übersetzungsarbeit für den Leipziger Buchpreis nominiert war.


Nein, die Autorin Michi Strausfeld stammt nicht aus Lateinamerika aber ihre Rolle für die Literatur aus dieser Region ist einzigartig. Ist sie doch seit den 1970er Jahren DIE Vermittlerin zwischen Deutschland und Lateinamerika. Jahrzehntelang hat sie den Schwerpunkt Lateinamerikanische Literatur beim Suhrkamp Verlag auf- und ausgebaut, bevor sie 2008 zum S. Fischer Verlag wechselte.

Auf ihr neues Buch: „Gelbe Schmetterlinge und die Herren Diktatoren – Lateinamerika erzählt seine Geschichte“ freue ich mich ganz besonders. Es ist eine neue und persönliche Literaturgeschichte Lateinamerikas – ergänzt durch Porträts der Boom-Protagonisten, die sie alle persönlich kannte.


Isabel Allende darf natürlich nicht fehlen. Sie veröffentlicht im Akkord. Meine letzte Lektüre von ihr liegt schon eine Weile zurück. Es handelte sich damals um „Der japanische Liebahber„. Der Plot des neuen Romans „Dieser weite Weg“ liest sich aber ausgesprochen gut: Der junge, idealistische Katalane Víctor Dalmau beginnt gerade als Arzt zu praktizieren, da bricht der Bürgerkrieg aus. Seine Familie beschließt, das belagerte Barcelona zu verlassen, aber der Marsch über die Pyrenäen endet desaströs. Unterdessen stirbt Víctors geliebter Bruder an der Front, und Víctor bringt es nicht über sich, seiner hochschwangeren Schwägerin Roser, einer angehenden Pianistin aus armen Verhältnissen, die ganze Wahrheit zu sagen. Und auch in Frankreich ist kein Bleiben, deshalb organisiert Víctor für Roser und sich in letzter Minute eine Überfahrt nach Chile.


Ein weiteres Debüt erwartet uns im Herbst von Carla Maliandi. Die argentinische Autorin und Theater-Regisseurin veröffentlicht „Das deutsche Zimmer“ beim Berenberg Verlag.

„Heidelberg, nur nach Heidelberg. Was genau sie aus Buenos Aires in die deutsche Hauptstadt der Roman-tik treibt, weiß die namenlose Erzählerin in diesem schnörkellosen und gleichzeitig verwunschenem Romandebüt auch nicht recht. Ganz sicher hat es etwas damit zu tun, dass ihre Eltern vor der argenti-nischen Militärjunta dorthin geflohen waren, dass sie allerfrüheste Kindheitserinnerungen an die Gassen am Neckar hat, das Schloss, die Hügel, den Nebel. Doch das begleitet diese Geschichte allenfalls wie ein unterirdischer Fluss. An der Oberfläche findet und verliert die junge Frau alte und neue Freunde, probiert Lieben aus, sucht nach Unbestimmtem und traumwandelt durch die Stadt.“


Eine der wichtigsten Autorinnen Argentiniens wurde mit ihrem Roman „Stirb doch, Liebster“ international bekannt und von der argentinischen Zeitung „La Nación“ als Roman des Jahres ausgezeichnet. Ariana Harwicz ist Dokumentarfilmerin und Schriftstellerin und lebt momentan in Frankreich. Aktuell ist sie auch für den Internationalen Literaturpreis 2019 nominiert, der im Juni vergeben wird.

Tobias Wenzel von NDR Kultur fasst das 120 Seiten starke Buch zusammen: „Eine sprachlich fulminante Tragikomödie und eine bitterböse Abrechnung mit einer gescheiterten Ehe in der Provinz (…) ein bewundernswertes, erfrischend radikales Debüt.“


Archiv der verlorenen Kinder“ ist der vierte Roman, der von Valeria Luiselli im deutschen Kunstmann Verlag erscheinen wird. Die Mexikanerin arbeitet als Lektorin, Journalistin und Dozentin und lebt in Mexico City und New York.

Zu ihrem neuen Roman, der im September erscheint, ist auf der Verlagsseite folgendes zu lesen: „Eine Familie aus New York bricht zu einer Reise auf. Das Ziel ist Apacheria, das Land, in dem einst die Apachen zu Hause waren. Gleichzeitig sind Tausende von Kindern aus Südamerika auf dem Weg in den Norden. Meisterhaft verknüpft Archiv der verlorenen Kinder Reise und Flucht zu einem vielschichtigen Roman voller Echos und Reflektionen.“


Die Argentinierin María Gainza lebt in Buenos Aires und arbeitet als Kunstkritikerin und Kuratorin, Ihr Debüt „Lidschlag“ erschien erst vor kurzem beim Wagenbach Verlag. Caro von Caros Bücher hat sich näher mit dem Roman in ihrem dazugehörigen Video befasst.


Der Wagenbach Verlag überraschte mich gleich mit drei Schriftstellerinen. Eine davon ist die mexikanische Autorin Fernanda Melchors mit dem Roman „Saison der Wirbelstürme„, der ebenfalls für den Internationalen Literaturpreis 2019 nominiert ist.

Auf dem Blog von frank rumpel findet ihr ein ganz persönliches Fazit: „Melchor zieht einen hinein in diese heftigen Geschichten, die da um ein Verbrechen kreisen und derweil tiefenscharf das Bild einer abgewrackten Gesellschaft zeichnen. Es ist nur ein kleiner Ausschnitt, in dem über individuelle Schicksale das ganze Elend von Armut, Korruption, Drogenabhängigkeit, festgefügten Rollenbildern, massiver Homophobie und Bigotterie, versagender staatlicher Institutionen und allgegenwärtiger Gewalt vor allem gegen Frauen zu sehen ist.“


Guadalupe Nettel, geboren in Mexico City, arbeitete als Journalistin für verschiedene spanischsprachige Zeitschriften, ihr schriftstellerisches Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und in zehn Sprachen übersetzt. „Nach dem Winter“ ist der erste Roman der Autorin, der auf Deutsch erscheint.

„Guadalupe Nettel hat keinen autobiografischen Roman geschrieben, aber sie hat viele persönliche Erfahrungen verarbeitet, zum Beispiel einen langen Aufenthalt in Paris (gegenüber Père Lachaise), die Freundschaft zu einem todkranken Mann dort, das Fremdsein. Manche Passagen hat sie nach einem damals geführten Tagebuch gestaltet. Sie erzählt davon leise, melancholisch und poetisch in einer klaren Prosa.“ So beschreibt Petra vom literraturreich in ihrer ausführlichen Rezension die Eindrücke der Lektüre.


Beim Wagenbach Verlag fand ich auch die Argentinierin Lucía Puenzo. „Sie lotet bis zum dramatischen Ende die Abgründe der besseren Gesellschaft aus,die ihre Privilegien rücksichtslos verteidigt, die Drecksarbeit aber lieber anderen überlässt.“

Ihr letzter Roman „Die man nicht sieht“ erschien bereits vergangenes Jahr, 2018. Trotzdem möchte ich Euch Lucía Puenzo nicht vorenthalten. Genaueres zum Buch findet ihr auf der Verlagseite und bei Marcus vom Bücherkaffee. Ihn habe die Geschichte der drei cleveren Helden mitgerissen und nachdenklich zurückgelassen.


Die Chilenin Nona Fernández beschäftigt sich immer wieder mit der blutigen Geschichte Chiles und versucht diese mit ihrem literarischen Werk zu verarbeiten. Mit Space Invaders / Chilean Electric geht sie weiter diesen Weg und blickt im ersten Kurzroman auf die 1980er-Jahre der chilenischen Diktatur, in der für die jugendlichen Hauptfiguren das Kult-Videospiel »Space Invaders« die einzige Fluchtmöglichkeit vor der Wirklichkeit ist.

Space Invaders ist ein autobiografischer Text, der sich mal als Geister-, mal als Horrorgeschichte wie in einer anderen Dimension präsentiert. Auch die zweite Erzählung trägt autobiografische Züge und beschäftigt sich mit den Fragstellungen: Wie wahrheitsgetreu können und müssen Erinnerungen sein? Und was ist mit all den verschwundenen Menschen? Wer erinnert sich an sie?


Silvia Rivera Cusicanqui lebt in La Paz (Bolivien) und arbeitet dort als Soziologin und Dozentin der Universidad Mayor de San Andrés. Sie hat zahlreiche Arbeiten im Bereich Politik und Soziologie veröffentlicht, die meisten von ihnen mit Fokus auf Bolivien. Sie gehört der ›Bevölkerungsgruppe‹ der sogenannten Mestiza (Menschen mit europäischen und indigenen Vorfahren) an, was sich eindeutig in ihren Texten widerspiegelt.

Ende 2018 erschienen unter dem Titel Ch’ixinakax utxiwa – Eine Reflexion über Praktiken und Diskurse der Dekolonisierung drei Essays, in denen sie eine neue, radikal dekoloniale Perspektive auf die bolivianische Gesellschaft entwickelt.


Zum 30. Jubiläum des LiBeraturpreises spannt „Vollmond hinter den fahlgelben Wolken“ einen großen Bogen über mehrere Generationen hinweg und öffnet den Blick auf die Verwerfungen modernen Lebens rund um die Welt.

Der LiBeraturpreis wird an schreibende Frauen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und der arabischen Welt verliehen. Als »kleine Schwester« des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels feiert er die vielfältigen Stimmen internationaler, außereuropäischer Schriftstellerinnen. In der Anthologie sind natürlich auch jede Menge Schirftstellerinnen aus Lateinamerika: Liliana Blum (Mex.), Leticia Martin (Arg.), Eliane Brum (Bras.), Ana María Shua (Arg.), Mirta Yánez (Kuba).


Ihr seid neugierig geworden? Und habt Lust noch mehr zustöbern, dann schaut unbedingt auf meiner Seite Lateinamerikanische Literatur vorbei. Unter diesem Link findet ihr nach Ländern sortiert Besprechungen von deutschprachigen BloggerInnen zu Literatur aus Lateinamerika. Und falls ihr Euch jetzt fragt: Warum lese ich eigentlich so wenig aus Lateinamerika? dann solltet ihr unbedingt hier nachschauen. Bereits 2015 habe ich mich damit auseinandergesetzt und zur Diskussion angeregt. Der Artikel gehört natürlich um viele Namen aktualisiert, ist aber sicher ein kleiner Wegweiser.

#frauenlesen #WirLesenFrauen

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