2017 gab es jede Menge Literatur zum hundertsten Jahrestag der revolutionären Vorgänge im Russland des frühen 20. Jahrhunderts. Catherine Merridale begab sich zu diesem Anlass auf die Spuren Lenins. Sie unternimmt die gleiche Zugreise, die ihn 1917 aus dem Schweizer Exil zurück in seine Heimat Russland führte, und entwirft für Laien wie Experten gleichermaßen ein detailliertes Hintergrundbild zu den historischen Ereignissen.
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Vor genau einhundert Jahren befand sich Europa mitten im Ersten Weltkrieg. Im dritten Kriegsjahr war Russland bereits durch die deutsche Handelsblockade und die inneren Unruhen sehr geschwächt. Das Zaristische Reich war geprägt vom Terror der korrupten Adelskaste und Teilen der Großbourgeoisie. Seit Jahren gab es verschiedene politische Gruppierungen, die Nikolaus Alexandrowitsch Romanow zu stürzen versuchten.
Tausende Russen befanden sich aufgrund ihrer politischen Tätigkeiten im ausländischen Exil. Unter ihnen einer der Bekanntesten der jüngeren Geschichte: Wladimir Iljitsch Uljanow – besser bekannt als Lenin. Als es Anfang des Jahres 1917 in Russland zu den ersten Aufständen unter den Arbeitern und Soldaten kam und Zar Nikolaus II infolge der Februarrevolution abdankte, suchte Lenin verzweifelt einen Weg, in die damalige russische Hauptstadt Petrograd (Petersburg) zurückzukehren. Da er sich in der Schweiz aufhielt und die Briten und die Franzosen sich weigerten, ihm zu helfen, gab es für ihn nur die Möglichkeit, über das mit Russland verfeindete Deutschland zu reisen.
Die britische Historikerin Catherine Merridale blickt in Lenins Zug zunächst zeitgeschichtlich zurück und ordnet die Februarrevolution in den gesamthistorischen Kontext ein. Sie legt die britischen, französischen und deutschen Interessen während des Kriegsverlaufes anhand zahlreicher Originalquellen dar und erläutert sehr verständlich die komplexe Situation. Komplex insofern, dass es nach der Abdankung des Zaren zu einer Doppelherrschaft in Russland kam. Auf der einen Seite stand die provisorische Regierung, auf der anderen der Sowjet, der eingesetzte Rat der Arbeiter und Soldaten.
Als Führer der Bolschewiki vertrat Lenin die Haltung, den kapitalistischen Krieg so schnell wie möglich zu beenden, um in Russland eine Diktatur des Proletariats auf Basis von Arbeiterräten aufzubauen. Für die Deutschen, die nach Möglichkeiten suchten, ihre Kriegsgegner zu schwächen, bot sich eine einmalige Gelegenheit. Würden sie die Durchfahrt Lenins gewähren, könnte er Russland mit seiner Ideologie weiter destabilisieren und sie selbst könnten an der Ostfront aufatmen.
»Wenn heutige Tyranneien hinweggefegt werden (zur Freude jedes ehrlichen Gemüts), halten die hastigen Diener der Großmächte immer noch Pläne bereit, um sich einzuschalten, zu drängen, zu intrigieren und Fraktionen zu fördern, die sie kaum verstehen können.«
Für ihr Buch plante Catherine Merridale die gleiche Route, die Lenin mit seinen Begleitern bestritt. Sie verwendete dafür Archivpläne und Karten von 1917 und ihre Notizen aus den 55 Leninbänden. Wie die Russen sollte auch sie acht Tage unterwegs sein und 3.200 Kilometer zurücklegen, um den finnischen Bahnhof in Petrograd zu erreichen.
Im Mittelpunkt der ausgiebigen Recherche stand bei der Autorin die Zugreise Lenins und die problematische Ausgangslage dieser Reise. Im Ausblick zeigt sie zudem auf, wie das historische Ereignis in den nächsten Jahrzehnten rezipiert oder vielmehr verschwiegen wurde. Fast alle Begleiter Lenins fanden in den darauffolgenden Jahren einen unnatürlichen Tod, sei es durch Erschießung oder im Arbeitslager. Nach der Februarrevolution erfolgte der zweite Aufstand im Herbst 1917, der als Oktoberrevolution in die Geschichte einging. Sie löste die Doppelherrschaft zugunsten der – jetzt bolschewistisch dominierten – Räte auf. Lenin war an seinem Ziel angekommen.
Catherine Merridale gelingt es nicht vollends mich zu überzeugen, Die Sprache und die Dramaturgie erinnern mich zuweilen eher an einen unterhaltsamen Krimi als an eine historische Dokumentation. Beachtlich jedoch ist ihr immenser Quellenschatz aus dem sie immer schöpft und das umfangreiche Bild-, Karten- und Fotomaterial, welches dem Leser einen wertvollen Einblick in die damalige Zeit vermittelt.
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Catherine Merridale: Lenins Zug. Die Reise in die Revolution
Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017
Büchergilde Frankfurt, 2017
Ich weiß nicht, ob man unbedingt die gleiche Zugfahrt (von vor 100 Jahren) tätigen muss, um als „Lenin Experte“ zu gelten. Ist eben doch mehr ein historischer Roman als ein Sachbuch geworden, oder nicht?
Ihr
Thorsten J. Pattberg, Autor der Lehre vom Unterschied
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Ja, es ist (leider) ein historischer Roman. Ein Sachbuch hätte mich aber – ehrlich gesagt – mehr interessiert!
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