Karina Sainz Borgo: Das dritte Land

Borgos Literatur ist kein Vergnügen im eigentlichen Sinne! Es ist eine permanente Auseinandersetzung mit dem Düsteren, mit der schlechten Seite des Menschen, mit dem Bösen. Ich habe „Das dritte Land“ in zwei Tagen gelesen. Zurück bleibt ein Gefühl der Ohnmacht, aber auch ein Zeugnis menschlicher Katastrophen – verpackt in anspruchsvolle und gute Literatur.

Ich kenne Reportagen und Berichte aus Südamerika. Wie Flüchtlinge aus dem Süden Richtung Norden aufbrechen, auf der Flucht vor Kriminalität, Hoffnungslosigkeit und Armut – immer mit dem Ziel und dem Wunsch: anders und besser zu leben. Überhaupt zu leben. Was sich in den Bergen und Urwäldern abspielt, ist dramatisch und für alle Überlebenden traumatisch. Karina Sainz Borgo erzählt in ihrem zweiten Roman „Das dritte Land“ von diesen Flüchtlingen.

Kaum einer von denen, die sich auf die Reise begaben, wusste, was ihn erwartete. Stundenlanges Wandern, gerade mal eine Decke gegen die Kälte übergeworfen. Wenn es Nacht wurde und man das Glück hatte, einen Schlafplatz zu finden, sank man auf Strohsäcke und Matratzen, hungrig und starr von der gnadenlosen Kälte der Hochebene, die zu dieser Jahreszeit die Grenzregion heimsuchte.

Auch Angustias Romero hat sich mit ihrem Mann Salveiro und ihren sieben Monate alten Zwillingen auf den Weg gemacht. In ihrer Heimat ist eine unheilbare Epidemie ausgebrochen, die auch ihren Mann befällt. Bereits der erste Satz des Romans nimmt das Unglück vorweg:

Ich kam nach Mezquite auf der Suche nach Visitación Salazar, der Frau, die meine Kinder begraben hat und mir dann zeigte, wie man die der anderen begräbt.

Sie stranden in Mezquite. Der Ort liegt in einer Region irgendwo in Lateinamerika, die exemplarisch für viele andere Regionen des Kontinents steht. Mezquite ist geprägt von Gewalt, Willkür, Korruption und dem Kampf ums Überleben. Ein Leben ist hier wenig wert. Um die Toten kümmert sich Visitación Salazar, die Totengräberin im Ort. Angustias möchte ihre toten Kinder, die auf der beschwerlichen Reise gestorben sind und das Einizge sind, was ihr geblieben ist, von Visitación beerdigen lassen. So gelangt sie auf den illegalen Friedhof von Mezquite, auch „das dritte Land“ genannt, das Territorium der gefürchteten schwarzen Madonna Visitación. Der Friedhof ist Gegenstand von Feindseligkeiten in der Umgebung und Visitación muss jederzeit damit rechnen, vertrieben zu werden. Dagegen wehrt sie sich. Bis an die Zähne bewaffnet, verteidigt sie „ihr Land“, wo sie den Toten eine letzte Ruhestätte gewehrt.

Von ihrem Mann verlassen und ihrer Kinder durch den Tod beraubt, möchte Angustias in der Nähe ihrer Zwillinge bleiben und schließt sich der Visitación an. Sofort wird sie in einen Strudel der Gewalt hineingezogen. Die Irregulären, wie die Guerilleros in der Region genannt werden, machen nicht nur den beiden Frauen das Leben zur Hölle.

Borgos zweiter Roman erinnert mich atmosphärisch sehr an ihr Debüt „Nacht in Caracas„. Bei der Veröffentlichung ihres ersten Romans hatte ich die Autorin gefragt, warum Gewalt ein so wichtiges und allgegenwärtiges Motiv in ihrem Roman sei. Gewalt sei wie eine Obsession, antwortete sie mir. Ihr Schreiben drehe sich immer wieder um dieselben Themen: Gewalt, Tod, Verbrechen, Gedächtnis und Identität. La Violencia (die Gewalt) sei schon immer ihr großes Thema gewesen.

Neben der Gewalt sehe ich noch weitere Parallelen: Wieder sind es die Frauen, die für ihre Ideen und Überzeugungen kämpfen (müssen). Treibende Kraft ist ihre Wut, die Kräfte freisetzt und sich dem patriarchalen System widersetzt. Aber auch in ihrem zweiten Roman gibt es Hoffnung im Verfall: Visitación schenkt den Toten einen Ort und wacht über die, die ihr anvertraut wurden. Und schließlich kann sich Angustias nach einer weiteren Welle tödlicher Gewalt, die auch Visitación trifft, befreien und Mezquite verlassen.

Borgo zeigt, wie Elend, Armut, Hunger und Gewalt den menschlichen Charakter prägen können. In Mezquite traut keiner dem anderen und der Tod kann die Menschen jederzeit willkürlich ereilen. Neben den individuellen Schicksalen der Flüchtlinge, thematisiert sie auch das Versagen von Staat und Politik. Wirtschaftliche Interessen münden in Gesetzlosigkeit und Skrupellosigkeit und Menschen- und Drogenhandel gehören zum Tagesgeschäft gekaufter Funktionäre. Eine hoch explosive Mischung, die jederzeit in die Luft gehen kann und in „Das dritte Land“ explodiert.


Karina Sainz Borgo: Das dritte Land
Original: El tercer país
Übersetzt von Angelica Ammar
S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Mainz 2023

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