Lateinamerikanische Literatur | Karina Sainz Borgo: Ich bin ein Produkt des 20. Jahrhunderts

Vor knapp 13 Jahren ging sie fort aus Venezuela: Die Schriftstellerin Karina Sainz Borgo kehrte ihrer Heimat den Rücken und ging ins spanische Exil. Für sie war ein Leben und Überleben in Venezuela nicht mehr möglich. Und einer Rückkehr steht sie bis heute skeptisch gegenüber. Ihre Gedanken und ihr Fühlen hat sie in ihrem Debütroman „Nacht in Caracas“ festgehalten.

Im Rahmen der Pressereise für das neue Buch machte sie auch Halt bei ihrem deutschen Verlag S. Fischer in Frankfurt. Dieser veranstaltet traditionell eine eigene Lesung für MitarbeiterInnen und PressevertreterInnen, um AutorInnen und deren Bücher erlebbar zu machen. Im Rahmen dieser Veranstaltung hatte ich Gelegenheit die venezolanische Autorin kennenzulernen. Als sie 2006 ihr Heimatland verließ, war Hugo Chavez bereits sieben Jahre Präsident und das Land befand sich mitten im Wahlkampf.

Bei der Verlagspräsentation erfuhr ich, dass sie mit dem Roman eine totalitäre Diktatur zu beschreiben versuche und mit der Vermeidung von Jahreszahlen und konkreten Daten wolle sie den Roman allgemein gültig halten. So könne er viele Regionen und Zeiträume repräsentieren und wäre damit zeitlos.

Im Zentrum der Handlungen stehen vor allem Frauen, die auf unterschiedliche Weise versuchen in einem totalitären Regime zu überleben. Ihr Handeln ist die Konsequenz eines Lebens, das gekennzeichnet ist von bürgerkriegsähnlichen Zuständen, von der individuellen wie gesellschaftlichen Ohnmacht angesichts der täglichen Gewaltexzesse und dem Gefühl des Ausgeliefertseins. Für diesen Roman gäbe es laut Borgo zwei Hauptanliegen: Zum einem wolle sie den eigenen Schmerz verarbeiten und zum anderen ein literarisches Werk erschaffen, das Fragen wie diese beantworten könne: „Was würde ich in solch einer Situation tun? Helfen? Auch wenn ich daraufhin alles verliere? Wegrennen?“ Zugleich solle der Text den Widerspruch aufzeigen, dass es im Moment des Überlebens nicht um Richtig oder Falsch gehe und die Frage nach der Moral obsolet sei.

„Gewalt ist wie eine Obsession für mich“

Beim anschließenden Interview wollte ich ihre ganz persönliche Geschichte erfahren und wissen, warum Karina Sainz Borgo mit dem Schreiben begonnen hat. „Die Nacht in Caracas“ sei nicht ihr erstes Buch. Zwei weitere Romane lägen noch in ihrer Schublade. Geschrieben hätte sie schon immer und früh zeichnete sich ihr Weg zum Journalismus ab. Noch heute arbeitet sie als Journalistin und veröffentlicht u.a. auf der spanischen Nachrichtenseite vozpopuli. Ihren endgültigen Weggang aus Venezuela bezeichnet sie als Resultat verschiedener Ereignisse. Sie fühlte sich zunhemend überfordert und fremd in ihrem eigenen Land. Sie erkannte die Gesellschaft, in der sie aufgewachsen war nicht mehr und fühlte sich ausgestoßen. Ihre Familie sei jedoch geblieben.

Ihre Vorfahren waren einst aus Spanien vor dem Spanischen Bürgerkrieg geflohen. Seit Generationen erlebe die Familie eine permanente Wiederholung von Verfolgung und Vertreibung. Nach mehr als 13 Jahren Exil hätte sie aber immer noch das Gefühl, dass sie ihr Land nie verlassen habe. Die Hoffnung auf eine Rückkehr verblasse jedoch immer mehr und dass sich die Situation verbessern werde, rücke in ferne Weiten. Ihr Buch werde jedenfalls nicht in Venezuela veröffentlicht. Es gäbe momentan kein kulturelles Leben in ihrem Heimatland, noch könne sich irgendjemand das Buch leisten.

Ihr Schreiben drehe sich immer wieder um die gleichen Themen: Gewalt, Tod, Verbrechen, Erinnerung und Identität. La Violencia (dtsch. die Gewalt) sei ihr großes Thema immer schon gewesen. Auf meinen Einwand, dass dieses Thema seit Jahrzehnten so dominierend in in der Literatur aus Lateinamerika ist, entgegnete Sainz Borgo: „Ja, aber es ändert sich.“ Und sie selbst sei vom Hässlichen fasziniert und suchte deshalb einen Autor, der es verstand über den Hass zu schreiben. Ein Freund empfahl ihr den österreichischen Autor Thomas Bernhard und während der Lektüre seiner Texte fühlte sie sich wirklich verstanden. Im Allgemeinen gefalle Sainz Borgo Literatur, die sich in Politik und Gesellschaft einmischt. In einem Land, das so komplex sei, wäre es schwierig Literatur zu erschaffen, die keinen Bezug zu politischen Ereignissen hat.

Bei meiner Lektüre notiere ich mir immer auch meine Eindrücke und im Nachgang musste ich feststellen, dass das Wort Wut am häufigsten in meinen Aufzeichnungen erschien: Mit welcher Entschlossenheit und Überzeugung Sainz Borgo mit ihrem Heimatland abrechnet. Mir gefällt die Unmittelbarkeit. Als Leserin entkomme ich der Gewalt und dem Schicksal der Hauptfigur Adeleida nicht. Mit dem perfiden Tod der Mutter und den furchtbaren Umständen wird man sofort beim Einstieg mit den wichtigen Themen Borgos konfrontiert.

„Da fing ich zum ersten Mal seit Monaten zu weinen an, mit dem ganzen Körper, ich zuckte vor Angst und Schmerzen. Ich weinte um sie. Um mich. Um das Einzige, was wir gewesen waren. Um diesen Ort ohne Gesetz an dem Adeleida Falcón, meine Mutter, bei Nachtanbruch den Lebendigen ausgeliefert war. Ich weinte in Gedanken an ihren Körper, begraben in einer Erde, die uns niemals Frieden bringen würde. Als ich mich neben den Fahrer setzte, wollte ich nicht sterben. Ich war bereits tot.“

Die Geschnisse berühren mich und ich komme tatsächlich an den Punkt, an dem ich mich frage: Wie hätte ich in den jeweiligen Situationen reagiert? Dennoch zermürbt die Gewalt, die Ausweglosigkeit und auf meine Frage nach Hoffnung antwortet Borgo nicht gleich. Doch es gäbe Hoffnung! Sie wolle aufzeigen, dass ein Überleben möglich sei. Dass es sich lohne zu kämpfen. Und unterstreicht noch einmal den zeitlosen Aspekt des Romans, denn Adeleidas Geschichte und ihre Erfahrungen seien universell und stünden für so viele Biografien. Und so rechtfertigt die Hauptprotagonistin dann auch ihr Handeln im Roman: „Meine Pflicht war es zu überleben.“

„Diesem verdammten, brennenden Land wollte ich keinen Fitzel überlassen…“

Borgos Sprache ist durchzogen von Leid und Schmerz. Sie ist voller Vergleiche und Bildnisse, die zugleich die Liebe Adeleidas zu ihrer Mutter aber auch die große Wut und Enttäuschung gegenüber ihrer Heimat reflektieren. Keine Versöhnung, kein Vergeben! Es ist die totale Dekonstruktion eines ganzen Landes und dessen Gesellschaft. Adeleida wird schon in den frühen Kindheitstagen mit dem Tod konfrontiert. Die verschiedenen Episoden aus ihrem Leben und die Erinnerungen an ihre Mutter lassen die kommende Katastrophe erahnen. Hinzukommen Alltagsszenen aus dem Hier und Jetzt – voller Angst und Panik. Für uns ist das kein Alltag, für uns ist es einfach unvorstellbar und schwer greifbar. „Nacht in Caracas“ ist ein Roman, der nicht nur wach rüttelt, sondern in der Hand explodiert.

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Karina Sainz Borgo: Nacht in Caracas
Übersetzt: Susanne Lange
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019

Die Autorin im Netz:
INSTAGRAM https://www.instagram.com/laksb/
TWITTER https://twitter.com/karinasainz
FACEBOOK https://www.facebook.com/karina.sainz

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3 Kommentare

    1. Lieber Bernd,

      die Situation in Venezuela, bzw. in vielen lateinamerikanischen Ländern, ist schon so lange mehr als berunruhigend und man kann nur hoffen, dass es Wege aus dieser unendlichen Spirale aus Gewalt und Krieg gibt.

      Gefällt 1 Person

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