Iris Schürmann-Mock: Ich finde es unanständig, vorsichtig zu leben. Auf den Spuren vergessener Schriftstellerinnen

Im vergangenen Jahr feierte der AvivA Verlag sein 25jähriges Bestehen. Ich hatte die Verlegerin Britta Jürgens nach den fünf Longsellern des Verlags gefragt. Im Rahmen des Jubiläums erschien zudem ein ganz besonderes Buch: Iris Schürmann-Mock „Ich finde es unanständig zu leben. Auf den Spuren vergessener Schriftstellerinnen“. Der Band widmet sich vergessenen Autorinnen aus drei Jahrzehnten und holt sie zurück in unser aller Gedächtnis. Ich hatte die Gelegenheit, die Herausgeberin über ihre Intention und die Auswahl der Autorinnen zu befragen.

In letzter Zeit gab es einige Bücher, die sich mit vergessenenen Schriftstellerinnen beschäftigten. Wie sind Sie zu diesem Thema und anschließend zum AvivA-Verlag gekommen?

Schürmann-Mock: Zum AvivA Verlag musste ich gar nicht kommen, da war schon seit drei Jahren mit meinem Buch „Frauen sind komisch – Kabarettistinnen im Porträt“. Deshalb habe ich mich sehr gefreut, dass Britta Jürgs auch meinen Themenvorschlag über vergessene Schriftstellerinnen angenommen hat. Die Anregung zu diesem Thema kam durch das Gedicht „Auswanderer“ von Hedwig Lachmann, das ich zufällig im Internet fand. Es beginnt mit den Zeilen „Sie nehmen ihre Kinder an der Hand / Und ziehen fort. Es duldet sie kein Land“. Es war als hätte die Dichterin vor über 100 Jahren die Situation vieler Flüchtender in der heutigen Zeit beschrieben. Ich war fasziniert von dem Gedicht und wollte mehr über die Dichterin erfahren, die ich bis dahin nicht kannte. Damit war die Idee geboren und eine zweijährige Spurensuche begann.

Sie stellen 25 Autorinnen in Ihrem Buch vor. Welche Biografie hat sie am meisten bewegt und warum?

Schürmann-Mock: Das ist schwer zu sagen, es gab viele Schicksale, die mich tief berührt haben. Das sind vor allem die ganz jungen Frauen, die durch Unrechtsregime einen frühen Tod erlitten haben, Selma Merbaum, die achtzehnjährig in einem Arbeitslager der Nazis starb und die selbst klagte: „Ich habe nicht zu Ende schreiben können“. Oder Edeltraut Eckert, die in DDR-Gefängnissen zugrunde ging. In Kälte und Dunkelheit hatte sie heimlich ihre Gedichte geschrieben. Ihre Mitgefangenen lernten sie auswendig, um sie in die Welt bringen zu können. Doch auch alle anderen Frauen, die ich porträtiert habe, sind mir nahe gekommen, denn jede einzelne hat Unglaubliches geleistet, erlebt und nicht selten auch erlitten.

Es gibt sicher noch mehr Autorinnen, die es verdient haben, vorgestellt zu werden. Welchen Kriterien waren Ihnen bei der Auswahl wichtig? 

Schürmann-Mock: Es gab sehr viel mehr Frauen, die ich hätte vorstellen können. Aber schon aus praktischen Gründen wie etwa dem Buchumfang musste ich eine Auswahl treffen. Dabei gab es neben der Qualität der Arbeiten mehrere Kriterien: Es werden Frauen vorgestellt, die zu unterschiedlichen Zeiten in drei Jahrhunderten gelebt haben und die verschiedene Arbeitsschwepunkte hatten wie Lyrik, Roman, Essay oder Reisebericht. Wichtig war mir auch eine gute Verteilung der Wohnorte im deutschsprachigen Raum. Denn überall dort habe ich nachgeforscht und in meinem Buch beschrieben, welche Spuren dieser vergessenen Schriftstellerinnen heute noch zu finden sind. Ich wollte nicht nur durch die Porträts und die Auszüge aus den Werken zeigen, wie aktuell diese Frauen nach wie vor sind. Die Leserinnen und Leser sollen auch die Möglichkeit haben, sie zu besuchen und ihnen nahe zu kommen zum Beispiel in kleinen Museen oder bei Spaziergängen.

„Und frei zu sein hast du ersehnt“

aus „Vom Leben trennt dich Schloß und Riegel“ von Edeltraut Eckert (1930-1955)

Von den 25 vorgestellten Frauen kenne ich nicht einmal eine Handvoll. So war dieses Buch wirklich eine Entdeckung und Inspiration für neue Lektüre. Alle Porträts sind gleich aufgebaut. Zuerst gibt es einen biografischen Abriss über ein bis zwei Seiten. Es folgen zwei Seiten „Aus ihrem Werk“ und unter der dritten Überschrift „Spurensuche“ stellt Schürmann-Mock in der Regel die Heimat oder die Wirkungsstätten der Autorinnen vor. Sie gibt Einblicke, wie heute an die Autorinnen erinnert und gedacht wird. So findet man u.a. Adressen und Kontaktdaten von Museen, Geburtshäusern oder Vereinen. Außerdem gibt sie Hinweise, welche Stadtführungen man buchen kann, um den Schriftstellerinnen näher zu kommen.

Bei einigen Porträtierten ist die Spurensuche noch längst nicht abgeschlossen und ihre Wiederentdeckung gleicht einer literarischen Sensation. So geschehen bei Lilli Recht. Die 1900 in Tschechien geborene Jüdin gehört mit ihrem Gedichtband „Ziellose Wege“ neben Mascha Kaléko zur Neuen Sachlichkeit. Erst durch einen Zufall wurde sie wiederentdeckt, doch bis heute ist der Umfang ihres literarischen Schaffens ungewiss. Zeitzeug*innen und Hinweise werden noch immer gesucht. Die Kontaktadressen finden sich im Buch. Im Teil „Hintergrund“ hat die Herausgeberin „Lesenswertes“ und zum Teil auch „Hörenswertes und „Sehenswertes“ über die Autorinnen zusammengetragen. Es folgt ein Überblick über das künstlerische Werk, in dem Dramen, Romane, Prosa, Lyrik und Briefe mit bibliografischen Details aufgeführt sind. Hinweise auf Biografien und weiterführende Literatur runden das Porträt schließlich ab.

Viele Biografien weisen Gemeinsamkeiten auf. Einige Autorinnen haben zunächst Erfolg, wenn auch nicht immer unter ihrem richtigen Namen. Jedoch hat fast jede dieser Schriftstellerinnen große Schwierigkeiten, ihr Talent frei auszuleben. In ihrem Umfeld lebten Menschen, vor allem Männer (Väter und Ehemänner), die den Erfolg missgönnten, die sie klein hielten und nicht ernst nehmen wollten. Die sogar ihre Arbeiten ihn ihrem eigenen schriftstellerischen Werk negierten.

Obwohl beide (Inge und Heiner Müller) gemeinsam den renommierten Heinrich-Mann-Preis erhalten haben, wurde und wird sie heute fast immer als seine Mitarbeiterin und nicht als gleichberechtigte Partnerin gesehen. Heiner Müller hat nichts getan, um diese Sichtweise in der Öffentlichkeit zu korrigieren. Im Gegenteil: Nach ihrem Tod, sorgte er dafür, dass die Erinnerung an die Autorin verschwand. Mehr und mehr bestritt er ihren Anteil an der Arbeit. Alles seins!

Nicht nur das private Umfeld, sondern auch das gesellschaftliche und politische Umfeld spielten (und spielen noch immer) eine große Rolle. Aufrgund von religiösen oder poltistischen Gründen wurden sie inhaftiert, verfolgt und ermordet. Durch Krankheit, Armut und/oder durch den Freitod wurden viele der Frauen nicht älter als 60 Jahre. Die Jüngste unter ihnen war Selma Merbaum. Sie starb mit 18 Jahren in einem Zwangsarbeitslager der Nationalsozialisten in Michailowka (Transnistrien). In ihren Werken lassen die Autorinnen Frauen zu Wort kommen, widmen sich aber auch den Ausgestoßenen, Kranken, Einsamen und Rechtlosen.

Schürmann-Mock gibt 25 Frauen ihre literarische Stimme zurück. Sie stellt sie nicht nur vor, sondern ordnet sie und ihr künstlerisches Werk literarisch und zeitgeschichtlich ein. Sie zeigt die Missstände auf, unter welch schlechten und schrecklichen Bedingungen Frauen schrieben und es gelingt ihr zusätzlich Neugier und Interesse zu wecken. Während der Lektüre habe ich mir Notizen gemacht, welche Texte und Werke demnächst auf meiner Leseliste stehen, darunter Maxie Wander mit ihrem Kultbuch „Guten Morgen, du Schöne“, die bereits erwähnte Lyrikerin Lilli Recht und die frühen Werke von Adrienne Thomas, die unter aanderem wegen ihrer Bücher vor den Nationalsozialisten fliehen musste.

Iris Schürmann-Mock: Ich finde es unanständig, vorsichtig zu leben
Aviva Verlag, Berlin 2022
ISBN-978-3-949302-08-4

1 Kommentar

  1. Danke für deinen sehr ausführlichen Kommentar, ich kann nur zustimmen. Auch mich hat der Titel des Buches sofort angesprochen, habe es mit Interesse gelesen und mir 10 Schriftstellerinnen herausgesucht, die vorgestellt wurden. Deren Bücher habe ich rezensiert, um auch auf diesem Weg die Schriftstellerinnen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Hier zum Nachlesen: https://mittelhaus.com/2024/01/21/iris-schuermann-mock-ich-finde-es-unanstaendig-vorsichtig-zu-leben/

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