Gaito Gasdanow: Ein Abend bei Claire

8d431-gaitogasdanow_einabendbeiclaire

Gaito Gasdanow. Ein Klassiker der russischen Exilliteratur – zumindest in Russland. Aber auch im deutschsprachigen Raum finden seine Werke immer mehr Anklang. Der Hanser Verlag begann vor einem Jahrzehnt mit der Herausgabe seiner Texte.

Gaito Gasdanow wurde Anfang des 20. Jahrhunderts in St. Petersburg geboren und wird mit seinem Werk der Schriftstellergruppe Russkij Montparnasse zugeordnet: Das waren russische Emigrantinnen und Emigranten, die sich in den 1930er Jahren vom konventionellen Erzählstil der russischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts abwandten und Marcel Proust, Franz Kafka, André Paul Guillaume Gide und James Joyce verehrten.

Gasdanow veröffentlichte seine Texte regelmäßig in Zeitungen und Zeitschriften der russischen Emigration. Davon leben konnte er allerdings nicht. Neun Romane und 37 Erzählungen publizierte er zwischen 1922 und 1968, die jedoch in relativ kleinen Verlagen in Paris und New York erschienen. Er lebte und arbeite zeitweise in Paris und München und verstarb 1971 in der bayrischen Hauptstadt. Politisch engagierte er sich mit seiner Frau während des Zweiten Weltkrieges in der Résistance und half, jüdische Kinder zu verstecken.

„Ein Abend bei Claire“ lautet nicht nur Titel, sondern der Abend ist auch Ausgangspunkt für Gasdanows Roman. Der Protagonist Kolja neben Claire liegend, lässt uns mittels Erinnerungen an seiner Kindheit und den Jahren des Erwachsenwerdens teilhaben. Eine Zeit, die von einem starken Bezug auf das eigene Ich geprägt ist. Die innere Existenz wird für ihn zur eigentlichen Daseinsberechtigung. Kolja selbst bezeichnet diese Zeit als völlige Versunkenheit. Die schönsten und bewegendsten Momente erlebt er nicht im Umgang mit anderen Menschen, sondern durch die Musik und die Literatur. Freundschaften und soziale Kontakte meidet er. Erst sehr viel später beginnt er zu begreifen, was Kameradschaft wirklich bedeuten kann. Und doch öffnet er sich nur langsam, die neue Lebensphase bereits erahnend.

„Ich stand quasi am Flussufer, bereit mich ins Wasser zu stürzen, konnte mich aber nicht entschließen, obwohl ich wusste, dass es unumgänglich war – nicht mehr lang und ich würde ins Wasser eintauchen und schwimmen, getragen von seiner gleichmäßigen und starken Strömung.“

Seinen einstigen Hass auf das Militär, der durch den frühen Verlust seines Vaters geprägt war, legt er später ab, als er sich freiwillig den Weißen Brigaden anschließt, um die bolschewistische Revolution niederzuschlagen. Weder sonderlich überzeugt, noch wirklich begeistert zieht er in den Krieg. Sein eigentliches Motiv ist Neugier und Wissbegierde. Er will das Leben und die Menschen wirklich kennenlernen. Seine eindringlichen und ungeschönten Berichte von der Front erinnern mich teilweise an die Schilderungen in „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque.

Jahre vor dem Abend bei Claire verliebt er sich unglücklich in sie. Sie ist die Ältere, die Dominante und überlegen im Reden und Handeln. Sie führt Kolja vor und lässt ihn das auch sehr bewusst spüren. Er lässt die Zeit mit ihr Revue passieren: Ihre erste Begegnung, ihre gemeinsam verbrachte Zeit und die Wiederbegegnung nach vielen Jahren in Paris. Es ist die erste Frau in seinem Leben und die „Beziehung“ endet zumindest für ihn unglücklich. Kolja scheint wie besessen von ihr zu sein.

„Ich trug unendlich viele Gedanken, Gefühle und Bilder in mir, die ich nachempfand und sah, und spürte doch ihr Gewicht nicht. Beim Gedanken an Claire aber füllte sich mein  Körper mit geschmolzenen Metall, und alles, woran ich weiterhin dachte – Ideen, Erinnerungen, Bücher -, alles suchte schnellstens sein gewohntes Aussehen abzustreifen, und ob Brehms Tierleben oder der sterbende Adler, alles stellte sich mir zuletzt als Claires hohes Knie dar, als ihre Bluse, durch die jene peinigenden Kreise um die Brustwarzen zu sehen waren, als ihre Augen und ihr Gesicht. Ich bemühte mich, nicht an Claire zu denken, doch es gelang mir nicht. Im übrigen gab es Abende, an denen sie mir gar nicht in den Sinn kam; eher lag der Gedanke an Claire tief in meinem Bewusstsein, während mir schien als vergäße ich sie.“

Gaito Gasdanow wird aufgrund seines Erzählstils und seiner ständigen Suche nach dem Sinn der menschlichen Existenz oft als „russischer Camus“ bezeichnet. In seinem ersten Roman „Ein Abend bei Claire“, den er im Alter von 26 Jahren schrieb, zeichnet er ein Bild Russlands zu Beginn des 20. Jahrhunderts, schildert anschaulich seine Kriegserlebnisse und lässt das Lesepublikum am Leiden und Sterben der Soldaten teilhaben. Seine bildhafte Sprache und sein Sinn für Details bleiben in Erinnerung.


Gaito Gasdanow: Ein Abend bei Claire
Original: Вечер у Клэр
Übersetzt von Rosemarie Tietze
Carl Hanser Verlag, München 2014

Und was sagst du dazu ...?