***Lateinamerikanische Literatur*** Ángela Pradelli: Das Haus des Vaters

Mit „Das Haus des Vaters“ schenken die argentinische Autorin Ángela Pradelli und die Übersetzerin Marion Dick dem deutschsprachigen Raum einen literarischen Schatz. Gerade mal 139 Seiten umfasst der Roman, den man im eigentlichen Sinne nicht als solchen verstehen kann, denn viele kleine Episoden reihen sich in loser Folge aneinander.

Die Ich-Erzählerin verliert ihren Vater, ihr Nachbar Ramón seinen besten Freund. Zunächst erwartet man die übliche Trauerbewältigung aber nein so einfach macht es Ángela Pradelli ihren Lesern nicht. Wir erfahren nicht, wie die Tochter leidet, sondern wie es vor dem Tod im Haus des Vaters mit ihm zusammen war und wie es jetzt ist – ohne ihn. Wie plötzlich Leerstellen entstehen und Alltägliches in der Vergangenheit hinterfragt wird.

„Nie zuvor jedoch hatte ich meinen Schatten gesehen, der sich an die Küchenwand wirft, wenn ich zu Mittag esse. Ich bemerkte ihn erst, nachdem mein Vater gestorben war. Anfangs störte es mich, wie er da vor mir hing, während ich aß. Wahrscheinlich hatte ich ihn zuvor nie bemerkt, weil mir mein Vater immer gegenüber saß.“

Es ist eine Erzählung der leisen Töne. Eine Geschichte über das Leben und den Tod, über die Einsamkeit und die Leere, die ein geliebter Mensch hinterlässt, wenn er geht. Der rote Faden, der die einzelnen Episoden zusammenhält, ist der abwesende Vater bzw. Freund. Erinnerungen, Rückblenden und Situationsbeschreibungen wechseln sich ab.

Pradelli lässt neben den Hauptakteuren verschiedene skurrile Randfiguren wie den Polen, die Regenverrückte oder die Tetona auftreten und schafft damit eine Szenerie, die sich vom gleich bleibenden fast monotonen Grundton der Erzählerin abhebt. Die melancholische Stimmung jedoch bleibt.

„Ja, der Pole erzählt gern Geschichten. Er beginnt sie in einem mit polnischen Wörtern gemischten, trockenen klingendem Spanisch. Je weiter er in der Erzählung fortschreitet, desto mehr geht er unbemerkt ins Polnische über und schafft es nicht mehr ins Spanische zurück. Schließlich weint er. Immer beendet er seine Geschichten aus Polnisch und weinend. Es bricht einem das Herz, ihn so schluchzen zu sehen und nicht zu verstehen, was er sagt. Es ist, als habe er nie ein Wort Spanisch gekonnt. Es strömen nur Tränen und Polnisch aus ihm.“

Immer wieder ist auch die Natur mit all ihrer Pracht Gegenstand der teilweise sehr detaillierten und poetischen Beschreibungen. Funkelnde Sonnenstrahlen werden zu einer „Elle aus Millionen von Teilchen, die durch den Raum schweben“ und die Blüten der Lilien stehen als Metapher für eine sinnliche Vereinigung:

„Jede Blüte bildet einen fleischigen Mund aus länglichen roten Lippen, deren Inneres in weißen Flaum gehüllt ist. Morgen früh öffnen sich die Lippen, vor der Dämmerung schließen sie sich, in der Nacht liegen sie fest aufeinander, als wären sie eins.“

Die komplette Abwesenheit der Mutter gibt Rätsel auf und schafft Raum für Interpretationen. Kein Wort, nicht einmal zwischen den Zeilen, wird über sie verloren. Ist es eine alte Enttäuschung und/oder ein weiterer schwerer Verlust, die die Tochter zum Schweigen bringen? Der Leser wird es nicht erfahren.

Ein Buch, das behutsam einer Spur in die Vergangenheit folgt, ohne die Gegenwart außen vorzulassen.

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Ángela Pradelli: Das Haus des Vaters
Original: El lugar del padre
Übersetzt von Marion Dick
Rotpunktverlag, Zürich 2012

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