Raffaella Romagnolo: Bella Ciao

Raffaella Romagnolo schafft mit Bella Ciao ein berührendes Epos, das Unterhaltung und anspruchsvolle Lektüre zugleich ist. Die italienische Schriftstellerin erzählt die Geschichte zweier Freundinnen vor dem Hintergrund der beiden Weltkriege. Nach einem schweren Verrat gehen Giulia und Anita jedoch getrennte Wege. Jahrzehnte und unzählige Schicksalsschläge später wagt eine von ihnen die Rückkehr in die Heimat – und damit ein mögliches Wiedersehen.

Die jungen Frauen leben Anfang des 20. Jahrhunderts in der italienischen Provinz. Sie fühlen sich seit jeher eng verbunden und sind füreinander wie Schwestern. Ihr Leben ändert sich radikal, als Anita und Giulias Verlobter Pietro eine Liaison eingehen. Giulia, die die beiden eines Abends zusammen erwischt, ist bitter enttäuscht, flieht und lässt ihre Heimat und ihre Mutter, ohne ein Wort zu sagen, zurück. Mit ihrem Ersparten bricht sie in die Vereinigten Staaten auf und begibt sich zugleich auf die Suche nach einem neuem Glück. Die Gedanken an ihre Freundin Anita und ihre große Liebe Pietro verblassen jedoch nie. In Italien heiraten unterdessen Anita und Pietro kurz nach Giulias Verschwinden und gründen eine Familie. Während Giulia sich versucht als ungeliebte Emigrantin in New York ein neues Leben aufzubauen, durchlebt die einstige beste Freundin zwei Weltkriege und muss einige schmerzhafte Verluste erdulden.

Die Leben dieser Menschen, damals ununterscheidbar von den ihren wie Steine in einem Flussbett, diese Leben hat die Strömung fortgetragen, und heute würde sie sie nicht wieder erkennen, selbst wenn sie über sie stolpern sollte. Sie sind verloren. Schlimmer noch: Sie sind Fremde. Wie ist das möglich? Sie waren alles, was sie hatte.

Knapp 50 Jahre später kehrt Giulia nach Italien zurück. Sie nutzt die Chance in ihrem Geburtstort Borgo di Dentro zu ergründen, was Freundschaft aushält und was sie am Leben erhält. Dabei brechen alte Narben auf und die Angst vor einer möglichen Begegnung mit Anita wächst. In ihrer zweiten Heimat hat sie gelernt, immer nach vorn zu schauen, immer weiterzugehen. Doch jetzt an ihrem Geburtstort blickt sie zurück in die Vergangenheit und stellt diese infrage: Was bedeutet Heimat, was zu Hause? Darf man dies noch als zu Hause bezeichnen, wenn man weggelaufen ist? Ist eine Rückkehr möglich?

©Büchergilde Gutenberg

Ausgangspunkt aller Handlung ist das italienische Städtchen Borgo di Dentro, das ein reales Pendant im heutigen Piemont hat. Hinsichtlich der historischen Fakten hat sich die Autorin intensiv mit Archiven, Geschichtsbüchern und alten Zeitungsberichten auseinandergesetzt. Sie hält mit ihrem Roman eine europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts fest. Sie ist beispielhaft für so viele Schicksale und Biografien in Europa. Durch die wechselnden Erzählperspektiven werden die beiden Welten der ehemaligen Freundinnen den Lesern besonders nahegebracht. Mit wenigen Sätzen fängt sie die Atmosphäre und ganze geschichtliche Zeitabschnitte ein: die vergangenen Welten eines bäuerlichen Dorfes um die Jahrhundertwende, das in den Strudel der Geschichte gerät, die Verzweiflung der Emigranten bei der Ankunft in Amerika und die Trauer einer Familie, die die Nachricht erhält, dass der Sohn im Krieg gefallen ist.

Mit dem Romantitel Bella Ciao zollt Romagnolo der Resistenza, den italienischen Partisanen während des 2. Weltkrieges, Tribut. Es ist der Name eines bekannten Liedes der Widerstandskämpfer und wurde international bekannt. Im Roman schließen sich Mitglieder aus Anitas Familie den Partisanen in den Bergen an und kämpfen gegen die faschistischen Truppen aus Deutschland und Italien.

Die begnadete Erzählerin Raffaella Romagnolo begleitet mit ihrem Roman Bella Ciao vier italienische Generationen ein halbes Jahrhundert lang und berührt alle großen Fragen des Lebens. Mit ihrer Familiensaga zeigt sie, dass das Leben eine ständige Wiederholung ist und dass es die Frage nach Schuld nicht gibt. Viele Familien in Europa mussten zwei Weltkriege, Armut und Elend ertragen. Anita und Giulia hingegen leuchten, tausende Kilometer voneinander entfernt, in diesen düsteren Zeiten wie zwei Sterne, die voller Hoffnung und Liebe sind.


Raffaella Romagnolo: Bella Ciao
Aus dem Italienischen von Maja Pflug
Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main 2019
Diogenes Verlag, Zürich 2019

3 Kommentare

  1. Das kommt sofort auf meine Wunschliste, es steht auch bald der Quartalskauf an ;). Ich lese gerade mit Francesco Melandri eine Italienerin und muss sagen, das Land hält so manche Perle, rundum großartige Geschichten, bereit. Viele Grüße

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