Christoph Hein: Trutz

Christoph Hein veröffentlichte innerhalb von zwei Jahren zwei herausragende Bücher und schreibt sich so in mein Bewusstsein zurück. Zum einem war das der Roman „Glückskind mit Vater„, erschienen 2016, zum anderen der aktuelle Roman „Trutz„, den er dieses Jahr auf der Leipziger Messe in der Alten Handelsbörse vorstellte.

Christoph Hein
Christoph Hein präsentierte seinen neuen Roman „Trutz“ in der Alten Handelsbörse

Der Andrang war wie immer enorm. Aber ich kann mich auch an keine Lesung mit ihm erinnern, die nicht überfüllt war. Und so lauschte ich in der letzten Reihe dem Interview, das Moderator Carsten Tesch führte.

Christoph Hein wollte mit „Trutz“ etwas von seiner eigenen Lebenszeit erzählen. Diese ist eng mit zwei Persönlichkeiten, die die Geschichte und viele Biografien über ihren Tod hinaus beeinflusst haben, verbunden: Adolf Hitler und Josef Stalin. Da er als Mensch den Großteil seines Lebens bereits be- und überstanden hat, war es ihm ein besonderes Bedürfnis dies zu thematisieren. Von Anfang an kannte er den Plot seiner Geschichte, die verschiedenen Charaktere entwickelten sich während des Schreibprozesses.

Für den Roman hat er sich auf eine intensive Recherche eingelassen, die vor allem in Russland sehr beschwerlich gewesen ist. Archivare hätten die Pflicht aufzubewahren. Aber hinsichtlich der Veröffentlichung bzw. der Einsicht in die Akten bestimme noch immer der Staat. Dann sei es wichtig persönliche Kontakte herzustellen und diese zu nutzen.

„Wenn das Wort Roman fällt, darf man davon ausgehen, dass alles was danach kommt Fiktion ist.“

„Trutz“ ist eine Geschichte des 20. Jahrhunderts. Beispielhaft für so viele Schicksale und Biografien in Europa. Zwei Weltkriege, Verbannung, Vertreibung und Mord. Jede Familie hat es getroffen, jeder kann eine Geschichte erzählen und jede ist tragisch. Die Geschichte der Familie Trutz ist eine davon. Maykl Trutz erzählt dem Erzähler, den er durch Zufall bei einer Lesung kennenlernt, seine Lebensgeschichte. Beginnend bei seinem Vater Rainer Trutz.

Christoph Hein_TrutzAls junger Mann dem elterlichen Hof überdrüssig, geht Rainer nach Berlin, um Schriftsteller zu werden. Dort lernt er durch einen Unfall die Russin Lilija Simonaitis kennen. Die Freundschaft zu ihr wird Rainers Leben für immer verändern. In den 30er Jahren veröffentlicht er seinen ersten Text und schreibt nebenbei Rezensionen. Mit dem zweiten Roman erhält er nicht nur gute Kritiken, sondern auch etliche Verrisse von der nationalen Presse und wird zum Ziel rechter Übergriffe. Die Atmosphäre verschlimmert sich und bald müssen er und seine Frau Gudrun, eine sozialistische Christin, in Berlin untertauchen. Als es keinen anderen Ausweg mehr gibt und die Situation immer gefährlicher wird, besorgt ihnen Lijlia ein Visum für die Sowjetunion.

Nach anfänglichen Schwierigkeiten kommt zumindest Gudrun gut in Moskau zurecht. Sie bekommen ein Kind und treffen schon bald auf Waldemar Gjem, Professor für Mathematik und Sprachwissenschaft, der sich einem unbekannten Forschungsgebiet widmet: der Mnemonik. Eine sehr alte Wissenschaft, die es sich zur Aufgabe gemacht hat Methoden zu entwickeln, um das Gedächtnis leistungsfähiger zu machen. Er gründet auch schon bald eine Forschungsgruppe, an der er seine Theorien und wissenschaftlichen Ansätze ausprobiert. Darunter auch sein eigener Sohn und der gleichaltrige Sohn von Rainer Maykl Trutz.

Es beginnt die Zeit der ersten großen Säuberungen unter Stalin. Trutz und seine Familie spüren schon bald die Einschränkungen im Alltag, das Misstrauen und das Schweigen. In seinem Umfeld verschwinden immer mehr Freunde, Bekannte und selbst der angesehene Prof. Gjem bleibt nicht verschont.

„Ein System von Obrigkeit und Willkür, Kontrolle und Amtsgewalt war allgegenwärtig und auch für die Einheimischen nicht immer durchschaubar. […] Sie hatten begriffen, dass in ihrer Exilheimat alles politisch gesehen wurde, dass jede Nachlässigkeit, jeder Spaß und Witz, selbst jede Unaufmerksamkeit genauso gewertet wurde wie eine gründlich durchdachte Äußerung und Entscheidung.“

Trutz selbst gerät bald ins Visier. Ihn holen seine schriftstellerischen Tätigkeiten ein. Aufgrund eines kritischen Artikels in Bezug auf die Sowjetunion, den er in Berlin verfasst hatte, kommt er für 5 Jahre ins Arbeitslager. Das Schicksal der Familie ist besiegelt. Die Biographie des Vaters wird seinen Sohn Maykl verfolgen, der nach dem Schulende in Russland in die DDR geht, um dort zu studieren.

Maykl Trutz erlebt in der DDR ein Déjà-vu. Wie schon seine Eltern in der Sowjetunion soll auch er sich anpassen, einordnen und den Anweisungen des politischen Kaders unterordnen. Die Verneinung der Anträge auf Mitgliedschaft in politischen Institutionen  ziehen Probleme nach sich. Als er dann als Archivar noch einen Skandal aufdeckt, wird er in die Bedeutungslosigkeit „geschickt“.

„Ohne Gedächtnis sind wir nichts.
Wir erinnern uns, nur darum leben wir.“

Heins Charakter sind Marionetten der politischen Systeme und es gibt keine Chance sich diesen zu entziehen. Familie Trutz steht stellvertretend für die Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts: Geflohen vor Hitler, verbannt und ermordet von Stalin und die eigenen Kinder noch in der DDR misstrauisch beäugt und unter Beobachtung gestellt. Gerettet hat Maykl Trutz sein Gedächtnis, das durch die Übungen und Trainings von Prof. Gjem zu Höchstleistungen getrimmt wurde.

„Unser Gedächtnis ist unser Verstand, unsere Sozialisation, es bestimmt unsere Handlungen, wir folgen im Denken und in dem was wir tun, dem Gedächtnis. Es herrscht sogar über unsere Gefühle.“

Wie schon in seinem ein Jahr zuvor erschienenen Roman „Glückskind mit Vater“ zeigt Hein auf, wie willkürlich Geschichte ist und wie unsere eigene Biographie beeinflusst wird vom Leben unserer Eltern und Großeltern. Der Roman spiegelt den Irrsinn, die bürokratische Gewalt und den Horror diktatorischer Systeme unter Adolf Hitler und Josef Stalin wieder.

Es freut mich, dass ich zurück zu Hein gefunden habe. Jahrelang habe ich nichts von ihm gelesen. Sowohl „Trutz“ als auch „Glückskind mit Vater“ zeigen seine schriftstellerischen Qualitäten und schon jetzt freue ich mich auf den nächsten Roman von Christoph Hein.

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Christoph Hein: Trutz

Suhrkamp Verlag, Berlin 2017

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