Irmgard Keun: Kind aller Länder

Wie erlebt eine 10jährige die Flucht durch halb Europa? Irmargd Keun lässt in ihrem Roman „Kinder aller Länder“ mit der kleinen Killy eine Heldin auftreten, die Antworten geben kann. Auf kindlich-naive Art schildert sie die verhängnisvolle Situation der Exilierten in den  30er Jahren des 20. Jahrhunderts.

Killy muss mit ihren Eltern aus Nazideutschland fliehen, da ihr Vater mit seinem schriftstellerischen Werk nicht der neuen Ideologie entspricht. Trotz der finanziellen Sorgen im Ausland ist der Vater Lebemann, nächtigt mit seiner Familie in den teuersten Hotels und isst in den edelsten Restaurants. Auf der Suche nach Geldern, um die anfallenden Kosten zu begleichen, müssen Tochter und Frau zuweilen als Pfand zurückbleiben. Das Warten auf den Familienvater und die Sorge um ihn bestimmen den Alltag der Zurückgebliebenen und nicht selten erfahren sie erst vom Hotelpersonal, wo er sich momentan aufhält.

Unrast ist sein großes Verhängnis und so wird das Leben zur Flucht vor der Flucht. Es geht von einer Stadt in die nächste und an Killys Augen ziehen die großen europäischen Metropolen vorbei: Paris, Amsterdam, Nizza, Rotterdam. Der  Vater scheint nur glücklich, wenn er wieder im Zug sitzt und das nächste Ziel bestimmt ist. Ihre Mutter sehnt sich hingegen nach Ruhe, ist des ständigen Aufbruchs müde und möchte sesshaft werden. Dazwischen Killy, die versucht keine Umstände zu bereiten, damit die Mutter nicht noch mehr weint und dem Vater zur noch größeren Last wird. Ein kleines, kluges Mädchen, das jeder Situation unbewusst auch etwas Bejahendes abringt. Die sich Gedanken um nationale Grenzen, Visa und Geld macht und mit den Spielen eines Flüchtlings die Zeit vertreibt: „Sonst spielen wir immer: in wie viel Betten hast du schon geschlafen? Oder: mit wie viel Zügen bist du schon gefahren? Oder: wie viel gute Freunde hast du auf der Welt?“

Einerseits unterhält ihr kindliches Hinterfragen den Leser, andererseits  entlarvt es die Missstände ihrer Zeit, die geprägt ist von Flucht, Rassismus, Hunger, Armut und Tod. Keuns einfach Sprache spiegelt die Denke eines Kindes wider. Viele Aussagen und Erkenntnisse Killys erscheinen trivial, sind auf den zweiten Blick jedoch durchdringend und anschaulich. Der leichte und teilweise beschwingte Duktus relativiert zuweilen die Verzweiflung des Vaters und die Traurigkeit der Mutter. Und obwohl sich Killy fragt: „Aber wozu soll man eigentlich erwachsen werden, wenn man nur traurig davon wird?“ gibt der Roman auch ein stückweit Hoffnung, dass das Kind von heute morgen eine bessere Welt kennenlernt.

„Kinder aller Länder“ besitzt autobiografische Züge der Autorin, die von 1936 bis 1938 eine Liebesbeziehung mit dem österreichischen Schriftsteller und Journalist Joseph Roth hatte. Während ihrer gemeinsamen Zeit reisten sie durch Europa. Eindrücke, die sie u.a. in Paris, Warschau, Wien, Salzburg, Brüssel und Amsterdam gesammelt hat, ließ sie bei der Niederschrift des Romans einfließen.

Kinder aller Länder ist momentan als Ausgabe beim Kiepenheuer & Witsch Verlag und auch als Büchergilde Ausgabe erhältlich.

Der Artikel wurde bereits im Büchergilde Magazin 4/2016 veröffentlicht.

11 Kommentare

  1. Ich hab in den letzten Jahren einiges von Keun gelesen, vor einigen Monaten dann auch „Kind aller Länder“. Die Perspektive des Kindes fand ich sehr gelungen und auf eine Art auch beeindruckend. Vielleicht weil komplexes so einfach und klar dargestellt wird. Von vielen habe ich aber auch gehört, dass sie diese Erzählstimme gar nicht gelungen, bemüht und unpassend fanden. Für mich ist Keun auf jeden Fall eine Lieblingsautorin.

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    1. Ja, deine Erfahrung kann ich teilen. Aber ich finde ihre Perspektive und die damit verbundene Erzählstimme alles andere als bemüht und unpassend. Aber es bleibt ja am Ende die subjektive Wahrnehmung.
      Als Lieblingsautorin kann ich sie noch nicht bezeichnen. Dazu muss ich noch mehr lesen. Was ist deine nächste Leseempfehlung?

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      1. Kennst du schon „Das kunstseidene Mädchen“? Das mochte ich am liebsten, die Protagonistin hat einen ungeheuren Charme.
        „Nach Mitternacht“ hat mir auch sehr gefallen, weil es die repressive Atmosphäre im Dritten Reich sehr eindrücklich schildert.
        „Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen“ fand ich atmosphärisch ganz anders als ihre anderen Bücher, das hätte fast Kästner sein können. Gut gefallen hat mir aber auch das.
        Nur bei „Gilgi, eine von uns“ bin ich nicht so reingekommen, ich habe es auch nie zu Ende gelesen. Ich fand, dass die Geschichte nur sehr, sehr schleppend Fahrt aufnimmt. Vielleicht braucht das noch mal ne Chance.
        Um es kurz zu machen: ich würde dir raten, mit dem „Kunstseidenen Mädchen“ weiter zu machen.

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  2. Ich hab von Irmgard Keun einiges gelesen, das Buch jetzt allerdings erst, als es bei Kiepenheuer & Witsch neu herauskam. Für mich war schon überraschend, wie sie aus der Perspektive eines Kindes schreibt. Der Stil hat mich nicht ganz überzeugt, man merkt dem Roman auch ein wenig an, glaube ich, wie zerrissen sie war, als sie ihn schrieb, in welcher schwierigen Lebenssituation.
    Dennoch ist es ein sehr eindrückliches Werk und wirkt nach – ich würde es nicht in meiner Leserbiographie missen wollen. Die schöne Büchergilde-Ausgabe kannte ich noch nicht, die schaue ich mir mal genauer im Augsburger Laden an.

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    1. Keun stand lange auf meiner Lektüreliste und nun bin ich froh, dass ich mit diesem Werk begonnen habe. Da warten ja wohl noch viele Sätze und Schätze auf mich. Was hat dir denn von ihr bis jetzt am besten gefallen?

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      1. Oh, das ist schwierig. Natürlich ist ein Favorit das kunstseidene Mädchen, aber ich mochte auch „Nach Mitternacht“ sehr. Besprochen habe ich neben Kind aller Länder auch die jüngst bei Kiwi erschienenen Erzählungen, ebenfalls aus Perspektive eines Kindes, aber irgendwie stimmiger.

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  3. Eigentlich stehe ich Irmgard Keun eher skeptisch gegenüber – deine Rezension macht aber doch auch Lust aufs Lesen. Vielleicht sollte ich der guten Frau Keul nochmal eine Chance geben ;-)

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      1. Irmgard Keun gehörte zur typischen Schullektüre, der ein fader Beigeschmack anhaftet ;-) bei solchen Syllabus-Autoren braucht’s ja oft noch mal Impulse von außen, ehe man – oder vielleicht auch nur ich – ihnen eine neue Chance gibt.

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        1. Ich hatte Keun gar nicht in der Schule. Muss aber gestehen, dass ich Pflichtlektüre nie wirklich als Pflicht, sondern als Bereicherung empfunden habe. Als Wegweiser durch den literarischen Dschungel.
          Ich stimme Masuko auf jeden Fall zu: Ein zweite Chance hat sie verdient!

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