Viktorija Tokarjewa: Leise Musik hinter der Wand

Viktorija Tokarjewa lese ich regelmäßig. Ihre Themen und ihr Schreibstil sind immer wieder Gründe nach einem Roman der russischen Schriftstellerin zu greifen. 2013 erschien der Roman „Leise Musik hinter der Wand“ – ein wunderschöner Titel, der mich zugleich neugierig machte.

Adriana, kurz Ada genannt, liebt das Leben und die Liebe. Und ist ihr Verhalten für ihre Umgebung noch so unmoralisch, ihr Glauben an die Liebe rechtfertigt alles. Schon früh heiratet sie Ossja, ihren ersten Ehemann, und gründet mit ihm eine Familie. Doch schon wenige Jahre nach der Trauung fehlt ihr das kleine Quäntchen Glück und sie fragt sich, ob das nun alles gewesen sei.

Natürlich nicht! Das Leben spielt ihr Leonard, ebenfalls verheiratet und mit Kind, in die Hände. Beide verlieben sich kurzerhand ineinander und nach vielen heimlichen Treffen und einer schmerzvollen Trennung, müssen beide erkennen, dass sie ohne einander nicht mehr weiterleben möchten. Sie beschließen das Wagnis einzugehen – und können nur gewinnen. Erst durch den plötzlichen Tod Leonards trennen sich ihre Lebens- und Liebeswege und Ada ereilt mit voller Wucht der Schmerz dieser Tragödie.

Mit Swerjew, einem russischen Künstler, findet sie ihr spätes Liebesglück und erfährt dadurch, dass es in einem Leben mehrere Lieben geben kann. Tokarjewa zeichnet nicht nur die Liebesgeschichte von Ada und Leon (später dann Swerjew) nach, sondern schafft es auch mit wenigen Sätzen die Geschichte Russlands darzustellen, natürlich immer eng verwoben mit Adas Lebensgeschichte.

Beeindruckt hat mich mal wieder die besondere Sprache der Autorin: kurze einfache Sätze, prägnant, nichts Überflüssiges, keine Schnörkel, klar und deutlich; und doch so dicht und poetisch. Es gibt viele wunderbare Textstellen, die verzaubern, bei denen man inne hält und auf den Nachklang der Wörter lauscht:

Er sah ihr ins Gesicht. Sie hatte eine schöne Stirn und wunderschöne Augen, aber der größte Schatz eines Gesichts war der Pfad von der Nase zur Oberlippe. Man sagt, dass dieser Pfad die zarte Berührung eines Engels ist, der Engelspfad.

In der ersten Zeit war Swerjew vierundzwanzig Stunden am Tag einfach nur glücklich. Das Glück war grell und stabil, wie die Hitze im Juli. Dann verging die Hitze, es blieb eine gleichmäßige seelische Wetterlage. Es war wie leise Musik hinter der Wand.

Sie war glücklich, dass sie nicht in ein leeres Haus zurückkehrte. Jemand wartete auf sie und freute sich über sie. Alles, was er sagte, war für sie interessant und bedeutungsvoll. Sich mit einem interessanten Menschen auszutauschen, das ist nicht weniger wichtig, als sich gesund zu ernähren. Der gedankliche Austausch, das ist auch Nahrung, bloß seelische.

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Viktorija Tokarjewa: Leise Musik hinter der Wand
Aus dem Russischen von Angelika Schneider
Original: Tichaja muzika zu stenoj
Diogenes Verlag 2013

5 Kommentare

    1. Bitte sehr! Eine wunderbare Schriftstellerin mit einer sehr einprägsamen Sprache. ber auch ihre Figuren sind es wert ein ums andere Mal zu ihren Romanen zu greifen. Viel Freude bei der Lektüre.

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  1. Tokarjewa kann man immer mal zwischendurch lesen. Relativ leichte Kost, die ordentlich unterhält. Irgendwann wiederholen sich aber die Themen (soziale Aufstiege, Liebe, vom Dorf in die Großstadt, usw.).

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    1. Als leichte Kost würde ich Tokarjewa nicht bezeichnen. Die Auswahl ihrer Themen und ihre einfache Sprache lassen dies wohl vermuten aber sie spricht in ihren Romanen Themen an, die eben nicht so „leicht“ abzuhandeln sind. Sie beschreibt gesellschaftliche Zustände und entwickelt Figuren, die für die jeweilige Zeit symptomatisch waren.

      Ja, sie unterhält aber mit Anspruch.

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