Jennifer Clement: Gebete für die Vermissten

„Mexiko ist eigentlich ein Kaninchenbau voller versteckter Frauen.“

Jennifer Clement_Gebete für die VermisstenDas lateinamerikanische Land liefert jeder Menge Stoff für wirklich erschütternde Geschichten und Erzählungen. Das Verschwinden, Morden und Missbrauchen von unzähligen Frauen jeden Alters gehört seit einigen Jahren dazu. In der Literatur begegnete mir das erste Mal diese Thematik mit entsetzlicher Ausführlichkeit und Intensität bei Roberto Bolaño und seinem epochalen Werk „2666“. Er schaffte mit seiner detailgetreuen und teilweise sehr nüchternen Beschreibung von über 100 Morden und Vergewaltigungen an Frauen eine beklemmende und düstere Atmosphäre im Roman. Seitdem habe ich das Gefühl, dass es kein Buch über oder aus Mexiko gibt, dass nicht zumindest dieses Thema streift.

Jennifer Clement setzt es gnadenlos in den Mittelpunkt. „Gebete für die Vermissten“  ist keine Fiktion, obwohl die Geschichte der Protagonistin an sich fiktional ist, es die harte Realität für viele junge Mexikanerinnen. Die Schriftstellerin hat sich über zehn Jahre lang mit diesem Thema beschäftigt und dazu recherchiert. Dabei mit Opfern und mit Frauen, Freundinnen und Töchtern von Drogenhändlern Interviews geführt.

Entstanden ist ein Roman, der einen brutal aus der eigene Wohlfühlsituation herausreißt und einem mal wieder schmerzlich klar werden lässt, mit was für Luxusproblemen wir uns tagtäglich auseinandersetzen. Die betroffenen Frauen, nein besser junge Frauen und Mädchen, teilweise erst sieben oder acht Jahre müssen mit der Angst leben, dass sie entführt und nie wieder auftauchen werden. Und wenn sie das Glück haben im Gefängnis zu landen, versuchen sie alles, um dort nicht mehr heraus zu kommen – nirgends sind sie sicherer.

LadyDi lebt in einem kleinen mexikanischen Bergdorf. Sie hat nur als Junge verkleidet die Grundschule besucht. Ihre Kindheit verlebt sie mit ihren besten Freundinnen Paula und Maria und den ständigen Ermahnungen ihrer alkoholsüchtigen Mutter:

Meine Mutter hatte mir sehr früh beigebracht, ständig für irgendwas zu beten. Ich hatte um Wolken und Pyjamas gebeten, um Glühbirnen und Bienen.
Bitte nie um Liebe und Gesundheit, sagte Mutter. Oder um Geld. Wenn Gott hört, was du willst, gibt er es dir nicht. Garantiert.
Als mein Vater wegging, sagte meine Mutter, Knie nieder und bitte um Löffel.

Ihr Vater ist wie alle anderen Männer in den Norden gegangen. Ihre Heimat ist bevölkert von Frauen, die ihre Töchter vor den umherziehenden Banden verstecken oder entstellen, in dem sie ihnen die Haare kurz schneiden und die Zähne schwarz anmalen. Aber es nützt nichts. Das schönste Mädchen aus dem Dorf, ihre Freundin Paula, wird einiges Tages abgeholt. Dass sie wieder auftaucht, grenzt an ein Wunder. Und so reiht sich ein schreckliches Ereignis an das andere.

Maria erklärte ihm, der Hubschrauber sei die Armee, die käme, um die Mohnfelder mit Paraquat zu besprühen.
Alle versuchen, in Deckung zu gehen, sagte sie. Man weiß nie, wo sie das Zeug hinsprühen.
Wir hörten den Hubschrauber näher kommen, bis er endlich über uns hinweg flog und sich wieder entfernte.
[…]
Maria wollte gerade aufstehen und darauf hinweisen, dass wir den Raum verlassen mussten, da wurde die Tür aufgestoßen und Paula kam keuchend und weinend herein. Sie war völlig durchnässt. Paula hatte die Augen geschlossen und presste die Lippen fest zusammen.
Wir alle wussten, dass man sterben konnte, wenn man das Zeug in den Mund bekam.

Jennifer Clement_Gebete für die Vermissten_Mexiko

Ihr Alltag ist ein nicht enden wollender Strom an kleinen und großen Katastrophen. Bei LadyDi mischen sich kindliche Naivität mit erschütternder Reife. Das Schicksal verweigert ihr eine erfüllte Kindheit und konfrontiert sie früh mit den Problemen der Erwachsenenwelt, mit Verlust von geliebten Menschen, dem Tod und der Hoffnungslosigkeit. Als sie die Chance bekommt das Dorf zu verlassen, geht sie ohne zu zögern und kann nicht wissen, das sie geradewegs in ihr größtes Glück aber auch in ihr größtes Unglück rennt. Sie lernt die Liebe kennen und wird in ein Verbrechen verwickelt, dessen Konsequenz der Aufenthalt im Gefängnis ist.

Aber nicht nur die Mafia degradiert Frauen zu Menschen zweiter Klasse und Töchter zu Unheilbringern sondern auch die mexikanische Gesellschaft leistet ihren Beitrag.

Der Polizist mir gegenüber trug immer noch seine Wollmaske. […]
Er holte ein Kaugummi raus und steckte es durch das Loch in der Maske. Beim Kauen bewegte sich sein Mund unter der kleinen Öffnung.
Wenn ich eine Tochter hätte, würde ich kotzen.

Die alltägliche Gewalt und LadyDis Wut sind permanent zu spüren, um so mehr überrascht mich die Liebe, die in vielen Nebensätzen zu spüren ist. Die Liebe zu ihrer Halbschwester Maria, zu Domingo, dem ersten Mann in ihrem Leben, zu ihrer Heimat Mexiko und dem Leben an sich.

Das Leben ist ein verrückter, verdrehter Ort, an dem Salz sich mit Zucker vermischt und Ertrunkene auf dem Trockenen gehen.

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Jennifer Clement: Gebete für die Vermissten
Original: Prayers for the Stolen
Aus dem amerikanischen Englisch von Nicolai von Schweder-Schreiner
Suhrkamp Verlag, München 2014

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5 Kommentare

  1. Liebe Vera,

    schön, dass die „Sommerpause“ anscheinend beendet ist und wir wieder mal eine Rezension von dir zu lesen bekommen. Freu mich auf mehr!
    Liebe Grüße
    Christina

    Gefällt 1 Person

    1. Liebe Christina,

      es war eine eher den Umständen verschuldete Pause. Nun wird wieder durchgegriffen und fleißig veröffentlicht. Freu mich, dass du mir treu bleibst.

      Liebe Grüße
      Vera

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    1. Lieber Kai,

      das mach ich sehr gern: Aufmerksamkeit schaffen. Für uns ist es das Ende der Welt. Für diejenigen, die dort leben sind wir es.

      Liebe Grüße von Vera

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