Meir Shalev und seine Art zu Erzählen sind wichtige Konstanten in meinem Lektürealltag geworden. Er schafft es jedes Mal wieder mich für seine Geschichten zu begeistern. Keine ist Abklatsch der vorherigen, immer neu und immer anders und trotzdem bleibt sich der israelische Schriftsteller treu. Er schreibt über sein Land, webt die Historie Israels in die Romangeschichte ein und entwickelt parallel dazu tragische, individuelle Schicksale.
Ruta Tavori, Gymnasiallehrerin in einem Moschawa (ländliche Siedlungsform in Israel) ist am Ende des Romans eine Stimme in meinem Ohr, die nicht aufhören kann zu erzählen. Im Buch erzählt sie ihre Geschichte einer jungen Studentin, die sie interviewt, um historisches und persönliches Material für ihre Abschlussarbeit zu finden. Ruta nutzt die einmalige Chance sich von dem Ballast, den sie und ihre Familie seit Jahrzehnten mit sich herumtragen zu befreien. Formal entspinnt sich ein Dialog der beiden Frauen. Tatsächlich ist es eher ein hinterfragender Monolog Rutas. Es ist die Geschichte von Rutas Großeltern, von ihrer Ehe mit Etan, von ihrem Sohn Netta und vor allem eine Geschichte über die Definition von Wahrheit.
„Die Wahrheit liegt zwischen den beiden Möglichkeiten, genau in der Mitte, dort, wo Wahrheiten sich bevorzugt aufhalten. Wenn die Wahrheit eindeutig ist, das heißt am einen oder anderen Ende liegt, langweilt sich nicht nur die Menschen, sondern auch sie sich selbst. Doch wenn sie sich zwischen den Polen befindet, sieht die Sache ganz anders aus.“
Die Wahrheit ist, dass Rutas Großvater Seev vor Jahren den Geliebten seiner Frau Ruth erschossen hat. Das ganze Moschawa wusste Bescheid und schwieg. Wer glaubt, dass ich damit alles preis gegeben habe, der irrt. Es bleiben viele Fragen. Was sucht Ruth ihr Leben lang in der Erde? Was verbindet Ruta und ihren Mann Etan? Was geschah mit ihrem gemeinsamen Kind Netta? Wie schafft es Seev Rutas Mann Etan nach einem schweren Schicksalsschlag das Leben zu retten? Welche Rolle spielt Rutas Bruder Dovik in dem labilen Gefüge? Erst nach und nach werden die Schichten von Ruta abgetragen. Ihre Antworten sind immer klar und direkt. Sie sind ehrlich und emotional.
Besonders gut gefällt mir Rutas Gespür für Sprache, die erfundenen Wortspiele und Wörter mit ihrem Mann Etan. Es entwickeln sich ganze Abhandlungen zu Wortbedeutungen und Sprachgeschichte. Weder langweilig noch belehrend. Einfach nur voller Liebe.
„… jedes Mal hat er sein Schild an die Wand gehängt: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Ruta. Es bleiben noch – und hier wechselte die Zahl – fünfzehn Jahre, vierzehn Jahre, dreizehn Jahre bis zu deinem vierzigsten Geburtstag. Und bei jedem Geburtstag hab ich gelacht, mein Gott, was habe ich damals mit ihm gelacht, in jenen Tagen, und gefragt: Was hast du denn bloß immer mit vierzig?
Das ist das Alter, das ich liebe. Das Alter, in dem ich dich endlich sehen möchte. […] Ich habe immer eine Frau von vierzig Jahren gewollt, und ich bin bereit zu warten.
Warum hast du denn dann keine Vierzigjährige geheiratet und fertig?
Er hat gelacht: Weil ich dich wollte. Ich habe dir angesehen, wie toll du sein wirst, wenn du endlich dieses Alter erreichst. Du warst eine langfristige Investition.
Und was ist bis dahin? Leidest du?
Sehr, sagte er. Ich leide, blicke aber hoffnungsvoll vorwärts, auf die Arba`ima – hat er der Zahl arba`im, vierzig, doch einfach die weibliche Endung a angehängt.
Kapierst du? Ich bin diejenige, die Bücher liest und Bibelkunde unterrichtet, und er, der mit Müh und Not die Oberschule abgeschlossen hat, mein ungebildeter Wilder, hat mich mit seiner hebräischen Wortschöpfung für „Vierzigerin“ übertrumpft.“
Ruta durchlebt während ihrer Erzählung alle Höhen und Tiefen noch einmal. Liebe, Wut und Enttäuschung wechseln sich ab. Sie zweifelt an Gott und ist dennoch voller Hoffnung. Hoffnung auf eine zweite Chance, die ihr das Leben geben kann. Sie verliert ihren Humor nicht, ist zuweilen jugendlich frech und trotzt dem Schicksal. Und so ist nicht nur Etans „Geschichte eine vom Feuer. Von Licht, und Hitze, und Erlöschen, und kalter Asche und Wiederaufflammen“, sondern eine des ganzen Romans.
Meir Shalev braucht mich nicht mehr zu überzeugen. Er soll einfach nur immer weiter schreiben. Zur Buchmesse in Leipzig werde ich ihn zum zweiten Mal live erleben und ich freue mich auf eine weitere Begegnung mit einem begnadeten Erzähler.
תודה Meir
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Meir Shalev: Zwei Bärinnen
Diogenes Verlag, Zürich 2014
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